R. Bühler: Jugend beobachten

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Title
Jugend beobachten. Debatten in Öffentlichkeit, Politik und Wissenschaft in der Schweiz, 1945-1979


Author(s)
Bühler, Rahel
Published
Zürich 2019: Chronos Verlag
Extent
307 S.
Price
€ 48,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Mirjam Lynn Janett, Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte, Universität Zürich

Die Jugend kann vieles sein: angepasst, strebsam, aber auch widerständig, faul oder renitent. In ihrer Wahrnehmung spiegeln sich gleichermassen Krisendiskurse, normative Erwartungshaltungen und optimistische Zukunftsvisionen. Die Historikerin Rahel Bühler zeichnet in ihrer 2019 erschienenen Dissertation nach, wie Jugendliche in der Schweiz zwischen 1945 und 1979 öffentlich verhandelt, wissenschaftlich untersucht und politisch problematisiert – kurz: wie sie beobachtet wurden.

Damit bewegt sich die Autorin in einem weiten Forschungsfeld, das sich bislang entweder in sozialgeschichtlicher Perspektive mit den strukturellen Bedingungen der Adoleszenz auseinandersetzte, im Sinne einer «history from below» auf Jugendkulturen und jugendliches Protestverhalten fokussierte oder sich im Bereich der Jugendfürsorge und -politik mit der zugleich als «gefährdet» wie auch «gefährlich» erachteten Jugend auseinandersetzte. Für ihre Analyse zieht sie ein heterogenes Quellenspektrum heran: Zeitungsartikel, Zeitschriften, populärwissenschaftliche Druckschriften, drei publizierte Jugendstudien und dazugehöriges Archivmaterial der Kommissionen und Gremien. Methodisch bedient sie sich Michel Foucaults historischer Diskursanalyse, um «die Strukturen des Sprechens über Jugend sowie ihre Persistenz und ihren Wandel zu erfassen» (S. 25).

Die gängigen historischen Periodisierungen bestätigend, jedoch die Bedeutung des Umbruchs 1968 relativierend, konstatiert die Autorin, dass die mediale Öffentlichkeit in den «langen 1950-er Jahren»1 die Jugend grösstenteils als unproblematisch wahrgenommen habe. Dagegen hätten die politischen Institutionen die «gefährdete» Jugend der unteren sozialen Schichten im Blick gehabt. Erst im darauffolgenden «bewegten Jahrzehnt»2 zwischen 1964 und 1974 sei die Vorstellung der Jugend als «homogener sozialer Gruppe und als generationeller Einheit» (S. 10) entstanden, deren «Andersartigkeit» (S. 10) Anlass gab, sie von den Erwachsenen abzugrenzen und als «gesellschaftliches Problem» (S. 72) wahrzunehmen. Dies habe die Voraussetzung für die wissenschaftliche Auseinanderersetzung mit der Jugend gebildet und die Grundlage für die Institutionalisierung jugendpolitischer Strukturen geschaffen.

Neben Einleitung und Fazit umfasst die Dissertation fünf Kapitel. Die Kapitel 2 und 6 behandeln die medialen Jugenddiskurse zu Beginn und gegen Ende des Untersuchungszeitraums. Die chronologisch strukturierten Kapitel 3 bis 5 zeichnen die Genese der drei Jugendstudien sowie deren Auswirkungen auf das «Politikfeld Jugend» (S. 9) nach.

Kapitel 2 befasst sich mit der Wahrnehmung der Jugend in der Öffentlichkeit bis zum Wirtschaftseinbruch 1973/1974. Sie bewegte sich entlang zweier Pole: die Jugend als eine «gesellschaftliche Ressource» (S. 35), die nach dem Krieg Stabilität und Kontinuität garantieren sollte, und als einer durch die hochkonjunkturelle «Konsum-, Unterhaltungs- und Werbeindustrie» (S. 269) «speziell gefährdeten Lebensphase» (ebd.). Ab Mitte der 1960er-Jahre dominierte dann die Wahrnehmung der Jugend als «distinktiver Altersgruppe und generationeller Einheit» (S. 10), die sich durch Aussehen, Verhalten und Wertvorstellungen massgeblich von der Elterngeneration unterscheide.

Diese Zäsur schuf die diskursive Voraussetzung für die wissenschaftlichen Untersuchungen und die Forderungen, jugendpolitische Strukturen zu schaffen, womit sich Kapitel 3 auseinandersetzt. Vor diesem Hintergrund entstanden schliesslich die drei für Bühlers Analyse zentralen Jugendstudien. Die Dachorganisation der Jugendverbände, die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft der Jugendverbände (SAJV) und die Nationale schweizerische Unesco-Kommission (NSUK), hatten bereits in den 1950er-Jahren Jugendstudien und jugendpolitische Massnahmen gefordert, wie sie in anderen Ländern umgesetzt worden waren.

Mit der finanziellen Unterstützung durch den Bund lancierte die NSUK 1967 die Studie «Jugend und Gesellschaft. Wegzeichen zu einer Jugendpolitik». Die Studentenunruhen von 1968 dienten als Katalysator für die Entstehung der beiden weiteren Studien. Sie wurden von der Studiengruppe des Eidgenössischen Departements des Innern und der Externen Studienkommission für Jugendfragen verfasst, die nach den Globuskrawallen in Zürich den Ursachen der Gewalteskalation auf den Grund gehen sollte.

Kapitel 4 widmet sich der Ausarbeitung der Studien und thematisiert die divergierenden Interessen und Absichten von Wissenschaft und Politik. Die Studienleiter, alle männliche Soziologen, hätten dabei «nicht uneingeschränkten Expertenstatus» (S. 160) gehabt, sondern hätten unter politischem Druck gestanden. Besonders den Autoren der Zürcher Studie wurden Befangenheit und mangelnde Objektivität vorgeworfen. Um sich vor dieser Kritik zu schützen, hätten die Studienleiter ein quantitativ ausgelegtes Forschungsdesign gewählt.

Mit den Ergebnissen und Auswirkungen der Studien setzt sich das fünfte Kapitel auseinander. Bühler konstatiert, dass sie die Jugendprobleme als Folge des soziökonomischen Wandels und Teil einer gesamtgesellschaftlichen Problematik deuteten, die durch Transformationsprozesse wie die Bildungsexpansion oder die Urbanisierung hervorgerufen worden sei. Dies habe dazu geführt, dass «Jugend zu einer distinktiven sozialen Gruppe» (S. 272) wurde. Die Studien hätten dabei nichts Neues produziert, sondern den internationalen Forschungsdiskurs fortgeschrieben. Prägend zum Beispiel sei das Konzept der amerikanischen Ethnologin Margaret Mead gewesen, die einen «Bruch» zwischen den Generationen konstatiert habe, der durch den gesellschaftlichen und technischen Wandel hervorgerufen worden sei.3

Bühler zieht das Fazit, dass die Berichte auf wenig Resonanz stiessen; insbesondere über die jugendpolitische Rolle des Staates war sich die breite Öffentlichkeit uneinig. Zudem habe sich «eine Kluft zwischen dem, was die Jugendlichen damals beschäftigte, und dem, was die Experten beobachteten» (S. 273), aufgetan – insbesondere deswegen, weil die Jugendlichen ihre Anliegen nur indirekt einbringen konnten. Durch die Empfehlungen wie die Ernennung von Jugenddelegierten oder Subventionen an Jugendverbände seien die «generationellen Hierarchievorstellungen perpetuiert» (S. 273) worden. Die meisten jugendpolitischen Vorschläge wurden indes nie umgesetzt. Jugendpolitik wurde nun jedoch nicht mehr nur auf kantonaler und kommunaler Ebene angesiedelt, sondern mit der 1978 gegründeten ausserparlamentarischen Kommission für Jugendfragen (EJK) zur Bundesangelegenheit erklärt.

Kapitel 6 schliesst mit der öffentlichen Wahrnehmung der Jugendlichen nach 1973/1974. Die Autorin betont, dass die Problemdiagnosen der Studien zum Zeitpunkt ihres Erscheinens schon überholt waren, weil ein fundamentaler Wahrnehmungswandel eingetreten sei: Mitte der 1970er-Jahre hätten Jugendliche wieder als passiv und konformistisch gegolten. Die Negierung der «gesellschaftlichen Brüche» (S. 274) durch die Beobachtenden habe sich schliesslich in den 1980er-Jahren in neuen Protestwellen entladen. Bühler bilanziert, dass «die Beobachtung von Jugend immer auch Selbstbeobachtung der Gesellschaft» (S. 275) sei. Sie gebe sowohl gesellschaftliche Problemlagen als auch normative Ordnungsvorstellungen wieder.

Neueren Ansätzen der Wissensgeschichte folgend begreift Bühler Wissen über die Jugend nicht ausschliesslich als Produkt der Wissenschaften. Vielmehr nimmt sie das reziproke Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft in den Blick. Dabei aber hat sie den einen und anderen Stolperstein nicht aus dem Weg geräumt. So sind die Periodisierungen nicht widerspruchsfrei. Bühler führt etwa aus, dass die Jugend als generationale Einheit erst in den 1960er-Jahren entsteht, betont aber zugleich, dass «die Jugend» in den langen 1950er-Jahren als angepasst und strebsam gegolten habe. Wie aber kann man über etwas sprechen, dass es gar noch nicht gibt? Unklar bleibt, wer das Referenzobjekt für «die Jugend» ist bzw. von welcher Jugend eigentlich gesprochen wird. Die Einleitung betont zwar, dass «Jugend» als Quellenbegriff benutzt werde (S. 15), zugleich aber dient sie als Analysekategorie.

Schliesslich wirft die Autorin in der Einleitung die Frage nach der Geschlechterperspektive auf, beantwortet sie aber nicht. Es scheint, als hätte die Jugend kein Geschlecht. Bei der Zürcher Studie erwähnt sie zwar, dass die Studienverantwortlichen «Jugend als urbanes, männliches Phänomen besser gestellter Bevölkerungsschichten im Blick» (S. 200) hatten. Wie aber wirkten im historischen Verlauf das Geschlecht oder eben auch die Klassenzugehörigkeit auf die Konzeption der Jugend ein? Die Frage bleibt offen. Das Herausarbeiten der Bezüge zwischen Machtrelationen und diskursiven Praktiken hätte die Hypostatierung der Jugend als Analysekategorie verhindert.

Dennoch: Die Autorin bereichert mit ihrer gründlich recherchierten und sorgfältig formulierten Studie die Forschung zur Jugend im 20. Jahrhundert. Sie zeigt überzeugend auf, wie Politik und Wissenschaft die Jugend in der Nachkriegszeit zum Gegenstand des Wissens erklärten und so den Gegenstand, den sie zu beschreiben suchten, erst hervorbrachten. Die Gesellschaft schafft sich die Jugend, die sie beobachtet, immer wieder selbst.

Anmerkungen:
1 Werner Abelshauser, Die langen fünfziger Jahre. Wirtschaft und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, 1949–1966, Düsseldorf 1987.
2 Mario König u.a., Einleitung. Reformprojekte, soziale Bewegungen und neue Öffentlichkeit, in: dies. (Hrsg.), Dynamisierung und Umbau. Die Schweiz in den 60er und 70er Jahren, Zürich 1998, S. 11–20, hier S. 12.
3 Margaret Mead, Der Konflikt der Generationen. Jugend ohne Vorbild, Olten 1971, S. 96.

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Published on
19.12.2019
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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